Geleitwort zur Ersten Elegie

Die Komposition für Chor, Sprecher, Streichorchester, Schlagwerk und Orgel ist eine musikalische Umsetzung des Textes der Ersten der Duineser Elegien Rainer Maria Rilkes. Dieser Zyklus von Trauergedichten, den Rilke in zehnjähriger Arbeit von 1912-1922 schuf, zeichnet sich durch eine außerordentliche lyrische Schönheit aus und paßt in seiner düster-gedrückten und nachdenklichen Stimmung gut in die Zeit des Kirchenjahresendes.
Die Duineser Elegien, so genannt nach dem Entstehungsort der Ersten und Zweiten Elegie, Schloß Duino im italienischen Friaul, gehören mit ihrer kryptischen Sprache, der verschlüsselten Symbolik und Metaphorik sowie oft entlegenen Textbezügen zu den am schwersten zugänglichen Werken der deutschen Lyrik. Der Inhalt des Textes erschließt sich dem Leser erst nach vielmaliger Lektüre und intensiver Interpretation. Kaum ein Zuhörer wird in der Lage sein, den Text beim einmaligen Hören auch nur annähernd inhaltlich aufzunehmen. Wohl aber ist es möglich, sich von den mystisch-erhabenen Bildern bewegen zu lassen, welche in der Ersten Elegie auftauchen.
Rilke sucht in diesem Gedicht nach dem Sinn für menschliches Leid, für den Tod, sucht die Grenzen menschlichen Daseins und die jenseits dieser Grenzen liegenden vollkommenen Dinge, vor deren Übermaß sich der Mensch zu behaupten hat: Engel als die erhabenste Form des Daseins sowie die Liebe als höchste Gefühlsintensität wie auch als Sinnbild der Vergänglichkeit. Der Mensch ist allein in der Welt, ein einsames und wegloses Individuum, das es selbst nicht vermag, das absolut Schöne und Vollendete zu erreichen. Es bleibt ihm ein schemenhaftes und blasses Abbild, eine Ahnung dessen, was sich im Überirdischen verbirgt. Allein daran klammert sich der Mensch mit aller Verzweiflung, an "irgendeinen Baum an dem Abhang", an eine "Gewohnheit, der es bei uns gefiel", um ein wenig Halt zu finden "in der gedeuteten Welt", um nicht zu vergehen am Übermaß des Vollkommenen.
Den Ausweg aus jener Verzweiflung weist Rilke damit, sich von all diesen irdischen Dingen zu lösen, die Leere der Welt aus den Armen zu werfen und seinen Geist den höchsten Dingen zuzuwenden, gleichsam "die Erde nicht mehr zu bewohnen". Das "berühmte Gefühl" der Liebenden ist das letztendliche Ziel alles Seienden. Um aber dieses in seiner reisten Form zu erreichen, bedarf es der Überwindung der erfüllten Liebe: "daß wir uns liebend vom Geliebten befrein". Denn umso stärker wird die Liebe, je verzweifelter sie sich auf eine "nie zu erreichende Preisung" richtet. Dann wird die Natur, die ewige Strömung die Liebenden, die "Verlassenen, die du so viel liebender fandst als die Gestillten", in sich zurücknehmen und sie jenseits menschlicher Zukunft Ruhe und Vollkommenheit finden lassen - "daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt".
Meine Deutungsvariante des Gedichtes ist eine musikalische Gedichtrezitation, die gesungenes und gesprochenes Wort in unterschiedlicher Weise miteinander verbindet, in einer dem lyrischen Gestus des Werkes angemessenen Tonsprache, die sich auf weiten Strecken kommentierend zurückhält und stellenweise aus ihrem meditativen Fluß ausbricht, um die Intensität bestimmter Verse hervorzuheben.
Die Erste Elegie ist keine geistliche Komposition, so wie auch hinter dem Text keine christliche Motivation steht, was Rilke selbst mehrfach betont hat. Die "Engel" der Ersten Elegie sind nicht als die göttlichen Boten, sondern, wie beschrieben, als die Verkörperung des Vollkommenen zu sehen.
Vielmehr ist der Text in Verbindung mit der Musik zur Ersten Elegie eine Reflexion und Anregung zum Nachdenken über die Ursache und den Sinn des Seins, über die Aufgabe des Menschen und seines Handelns in der Welt, über Vollkommenheit und Vergänglichkeit. Welche Motivation letztendlich hinter all diesen Dingen steht, ob sie also irdischen oder göttlichen Ursprunges sei, soll am Ende den Gedanken des Hörers überlassen bleiben.

Christian Quinque, Leipzig, den 17. Juni 2004

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Christian Quinque, Erste Elegie, Seite 3 (Takt 31-42) aus dem Autograph der 1. Fassung
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